Bauen mit Verantwortung – David Chipperfield über Architektur im Wandel
Der Architekt David Chipperfield hat 2017 im entlegenen Galizien die Fundación RIA gegründet, um neue Wege in der Architektur zu beschreiten. Dabei spielen auch Holz und die Kreislaufwirtschaft eine wichtige Rolle.
Katharina Lehmann ist nach Berlin gereist, um sich mit dem Pritzker-Preisträger über Holz, Beton und die Verantwortung der Architektur zu unterhalten.

Katharina Lehmann und David Chipperfield unterhalten sich am Tisch

David Chipperfield, Architekt
David Chipperfield
gehört zu den weltweit führenden Architekten. Zu seinen bekanntesten Werken gehören das Neue Museum in Berlin, die Hepworth Wakefield Gallery in West Yorkshire, das America’s Cup Building in Valencia und der Erweiterungsbau für das Kunsthaus Zürich. Aufgewachsen ist Chipperfield auf einem Bauernhof in der Grafschaft Devon. Sein erstes Büro eröffnete er 1985 in London. Heute befindet sich das grösste Büro von David Chipperfield Architects in Berlin, weitere Niederlassungen führt er in London, Mailand, Shanghai und Santiago de Compostela. Er ist bis heute Gastprofessor an mehreren Universitäten und war 2012 Kurator der 13. Architekturbiennale in Venedig. 2023 erhielt er den PritzkerPreis. 2017 gründete er in seiner Wahlheimat Galizien die Fundación RIA, eine Non-Profit-Organisation, die sich für eine nachhaltige Entwicklung und Lebensqualität einsetzt. Seit 2023 sitzt Katharina Lehmann im Advisory Board der Fundaciòn RIA.
↳ www.davidchipperfield.com
↳ www.fundacionria.org
David, du hast 2023 den wichtigsten Architekturpreis, den Pritzker-Preis gewonnen. Wie hast du davon erfahren?
DAVID CHIPPERFIELD «Ich war zu Hause, hatte Gäste eingeladen und war dabei, eine Zucchinisuppe zu kochen. Da klingelte das Telefon. Es war also ein etwas unpassender Moment, aber natürlich habe ich mich gefreut. Nur wollte ich die Suppe trotz Pritzker-Preis nicht anbrennen lassen. Also habe ich mich kurz gehalten. Ich wurde dann noch gebeten, die frohe Botschaft geheim zu halten. Das war nicht einfach …»
Welche gesellschaftliche Rolle spielst du als Architekt?
DAVID CHIPPERFIELD «Als Architekt kann ich Gebäude bauen: ein Museum, ein Weingut, ein Wohn- oder Bootshaus … Ich könnte aber auch sagen: Wir Architekten bauen die Welt. Aber was für eine Welt wollen wir bauen? Eine Welt der Privilegien, der Umweltzerstörung und der Profite? Oder eine solidarische und gerechte Welt, die den natürlichen Ressourcen dieser Erde Sorge trägt? Wenn du schaust, was in London in den letzten Jahrzehnten gebaut wurde, wirst du feststellen: Die Immobilien sind in erster Linie Spardosen der Reichen. Ihre wichtigste Funktion ist, die reichen Besitzer noch reicher zu machen – und nicht die Stadt lebenswerter. Die Architektur hat ihre Unschuld verloren und ist zum Abbild des Immobilienmarktes geworden. Ich bin aber optimistisch, dass die Architektur wieder näher an die Gesellschaft rückt, denn die negativen Effekte dieser Entwicklung sind offensichtlich geworden.»

Katharina Lehmann im Gespräch mit David Chipperfield
Meinst du damit auch den Klimawandel?
DAVID CHIPPERFIELD «Genau. Wir haben keine andere Wahl, als uns mit Themen wie dem Klimawandel und der zunehmenden sozialen Ungleichheit auseinanderzusetzen, und das sehe ich als grosse Chance. Wir Architekten haben viel von unserer Verantwortung abgegeben. Jetzt müssen wir sie zurückerobern. Wir können nicht Dekorateure bleiben.»
Du bist bekannt dafür, in Beton zu bauen, obwohl Holz der nachhaltigere Baustoff ist. Warum fehlt Holz in deinem Werk?
DAVID CHIPPERFIELD «Ich schätze Holz – nicht nur wegen seiner ökologischen Vorzüge, sondern auch wegen der Handwerkskunst, die es erfordert. Holzbau ist authentisch, da Konstruktion und Fassade oft eins sind. Doch genau darin liegt die Herausforderung: Holz erfordert spezialisiertes Know-how, während Beton in der Bauindustrie als standardisierte Commodity gilt. Jeder kennt seine Kosten und Eigenschaften. Holz hingegen macht den Planungs- und Ausschreibungsprozess komplexer, da von Anfang an erfahrene Holzbauer eingebunden werden müssen. Daher setzen viele auf den einfacheren Weg: einen Betonrohbau mit einer applizierten Holzfassade.»
«Wir Architekten müssen unsere gesellschaftliche Verantwortung zurückerobern»David Chipperfield

Katharina Lehmann fasziniert im Gespräch mit David Chipperfield
In der Schweiz schreiben Bauherren immer öfter Projekte in zwei Varianten aus – als Beton- und als Holzbau. Wäre das eine Lösung?
DAVID CHIPPERFIELD «Wenn Holzbau von Anfang an als Option berücksichtigt wird, ist das ein Fortschritt. Es zeigt, dass soziale und ökologische Anliegen zunehmend in die Architektur einfliessen. Holz spielt im architektonischen Diskurs eine immer grössere Rolle. Kürzlich waren wir als Betonarchitekten zu einer Ausstellung mit dem Titel «Wood’s up – The Rise of Timber Buildings» eingeladen. Dort präsentierten wir ein Projekt in Südafrika, das mit lokalem Lehm und Holz realisiert wird. Zwar retten solche Einzelprojekte nicht das Weltklima, aber sie zeigen, dass sich die Industrie in die richtige Richtung bewegt.»
Auch die Vorfabrikation im Holzbau könnte Bauprozesse erleichtern?
DAVID CHIPPERFIELD «Ja, das würde nicht nur Kosten senken, sondern auch nachhaltiges und sozialverträgliches Bauen fördern. Vorfabrikation und Modulbau machen Holzbau zudem für grössere Projekte skalierbar – hier sehe ich grosses Potenzial.»
«Der Holzbau erfordert zusätzliches Know- how. Die Bauindustrie ist hingegen nach wie vor durch Deskilling geprägt, also durch den Abbau von Know-how, um Geld zu sparen.»David Chipperfield

David Chipperfield berichtet über die soziale und ökologischen Anliegen
Welche konstruktiven Grenzen siehst du im Holzbau? Oder anders gefragt: Wäre der Erweiterungsbau für das Kunsthaus in Zürich auch als Holzbau möglich gewesen?
DAVID CHIPPERFIELD «Als wir 2008 das Projekt für den Erweiterungsbau des Kunsthauses begannen, fehlte uns noch das heutige Verständnis des strukturellen und ökologischen Potenzials von Holz. Jetzt wissen wir mehr darüber, welche Möglichkeiten der Holzbau bietet – und wo seine Grenzen liegen. Einen Erweiterungsbau aus Holz wären wir ganz anders angegangen, denn jedes Baumaterial verlangt einen eigenen Umgang mit Formen, Proportionen und Details und führt zu unterschiedlichen architektonischen Akzenten. Bei einem Erweiterungsbau aus Holz hätten wir vielleicht die ähnlichen konzeptionellen Ideen verfolgt: ein «House of Rooms», das Atrium als Verbindung zwischen Stadt und Garten. Aber Aspekte wie das räumliche Erlebnis und das Verhältnis zum Material hätten ganz andere gestalterische Ideen und am Ende eine ganz andere Architektur hervorgebracht.»
Du hast Büros in Berlin, London, Mailand, Galizien und Shanghai – wie hast du vor sieben Jahren den Weg zum Erlenhof gefunden?
DAVID CHIPPERFIELD «Unser erstes Treffen fand im Rahmen eines möglichen Holzbauprojekts in Graubünden statt. Zu dieser Zeit war ich ohnehin oft in der Schweiz, unter anderem wegen des Erweiterungsbaus für das Kunsthaus Zürich. Nach einer Sitzung besuchten wir den Erlenhof. Parallel hatten wir gerade unsere Fundación RIA in Galizien gegründet, wo Themen wie Nachhaltigkeit, Regionalität und Kreislaufwirtschaft eine zentrale Rolle spielen – ebenso wie Holz, da die Region reich an Wald ist. Der Erlenhof beeindruckte mich durch die Mischung aus Tradition und Innovation, die sich nicht nur in den Bauten und Maschinen, sondern auch in den Menschen widerspiegelte. Dieses umfassende Know-how entlang der gesamten Wertschöpfungskette des Holzbaus erinnerte mich an unsere Arbeit in Galizien – deshalb habe ich dich gebeten, Mitglied unseres Advisory Boards von RIA zu werden.»
«Auf dem Erlenhof hat mich die einzigartige Verbindung von Tradition und Innovation berührt – spürbar in den Bauten, den Maschinen und vor allem in den Menschen die dort arbeiten.»David Chipperfield

Katharina Lehmann und David Chipperfield vertieft im Gespräch auf der Terrasse
Was willst du mit der Fundación RIA im abgelegenen Galizien erreichen?
DAVID CHIPPERFIELD «RIA ist eine Antwort auf meine Erfahrung, dass ich als Architekt oft nur Dekorateur bin. Schon 2012 als Direktor der Biennale in Venedig, mit dem Motto Common Ground, wollte ich die isolierte Rolle der Architektur hinterfragen und auf ihre kulturelle, gesellschaftliche und ökologische Bedeutung hinweisen. Die Fundación RIA ist mein Versuch, diese Verantwortung wahrzunehmen. In Galizien, wo Natur, Tradition und Handwerk noch stark verwurzelt sind, ist der Spielraum grösser als in unseren hyperkapitalistischen Städten – auch wenn die Region mit Landflucht, ungenutzten Ressourcen und Verfall kämpft. Mit RIA wollen wir die Gesellschaft durch Architektur aktiv mitgestalten.»
Was heisst das konkret? Was tut RIA?
DAVID CHIPPERFIELD «Zunächst bauen wir Wissen über wirtschaftliche und kulturelle Kreisläufe auf – zum Beispiel über die Forstwirtschaft: Wem gehört der Wald, warum wird er kaum genutzt? Wir recherchieren, informieren und fördern den Dialog zwischen Bevölkerung, Unternehmen und Politik. Als Agentur und Thinktank bringen wir Akteure zusammen und erweitern Horizonte – etwa, indem wir führende Holzunternehmen aus Galizien mit internationalen Vorreitern wie dem Erlenhof vernetzen.»
Eine letzte Frage: Wie hast du deine Nachfolge geregelt? Ist David Chipperfield Architects ohne David Chipperfield denkbar?
DAVID CHIPPERFIELD «Mein Büro trägt meinen Namen, was typisch ist in unserer Branche. Da schwingt ein bisschen das Künstlertum mit, das durch die Idee der Signature Architecture noch verstärkt worden ist. Dieser Trend nimmt aber ab – aus den eben genannten Gründen. Der Einzelne wird weniger wichtig, die Gemeinschaft wichtiger. So versuche auch ich, meine Rolle in meinem Büro fortlaufend zu neutralisieren, indem ich immer mehr Verantwortung abgebe. Unser grösstes Büro – das in Berlin – könnte schon heute ohne mich funktionieren. Und wie sieht es mit Blumer Lehmann aus? Sitzt die sechste Generation schon in den Startlöchern?»
KATHARINA LEHMANN «Du fragst mich nach meiner Nachfolge? Ich habe leider keine direkten Nachkommen. Aber ich bin wie du überzeugt, dass Blumer Lehmann ein Familienunternehmen bleiben und als Familie funktionieren muss. Mit oder ohne den Namen Lehmann. Viel wichtiger ist, dass wir ein familiäres Unternehmen bleiben.»

Wissbegierig zu dritt am Tisch