Einer von uns
Keiner hat den Erlenhof in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so sehr geprägt wie Leonhard Lehmann IV. Er hat Holz geliebt und gelebt, war Zimmermann und Meister, Chef und Arbeiter, bodenständig und doch visionär. Auf einen Stumpen mit Leonhard Lehmann.

Karte an Ruth aus dem Teutoburger Wald

Leonhard Lehmann IV mit seinem Stumpen
Leonhard Lehmann IV – Ein Name, der verpflichtet
Geboren am 20. November 1935 in Gossau, wuchs Leonhard Lehmann IV. als ältestes von sieben Kindern auf. Schon früh übernahm er Verantwortung im Familienbetrieb, half in der Sägerei, kümmerte sich um die Tiere und erlebte den Wiederaufbau nach dem Krieg hautnah. Der Name Leonhard Lehmann, den bereits sein Urgrossvater, Grossvater und Vater trugen, war für ihn kein Druck, sondern eine Selbstverständlichkeit. Der Weg zum Zimmermann war vorgezeichnet – nicht aus Zwang, sondern aus Leidenschaft für das Handwerk. Seine Bodenständigkeit, sein Sinn für Gemeinschaft und sein unermüdlicher Einsatz prägten nicht nur den Erlenhof, sondern auch die Zukunft der Holzindustrie.
Lernen von den Meistern
Er ist wissbegierig und lernt schnell. Vor allem von den alten Meistern auf dem Erlenhof, wie Onkel August, der Leonhard ins dreidimensionale Zeichnen einführt. Fasziniert schaut ihm der Junge zu, um am Abend selbst die ersten Verbindungen und Sparren zu skizzieren. Computergenerierte 3D- Bilder sind zu dieser Zeit höchstens Science-Fiction, in Realität zählt das Talent fürs räumliche Denken.
Um die Nachfolge unter den sieben Geschwistern zu regeln, wandelt Leonhard Lehmann III. seine Einzelfirma 1959 in eine Aktiengesellschaft um, die Leonhard Lehmann AG, die fortan vom 25-jährigen Leonhard Lehmann IV. und seinem Bruder Ruedi weitergeführt wird.
Die Brüder sind charakterlich verschieden, jedoch ergänzen sich die beiden gut. Die Wirtschaft boomt, die Firma wächst – auch dank dem Ideenreichtum von Leonhard Lehmann. Als aufgrund des Autobahnbaus in den 1960er-Jahren viele landwirtschaftliche Betriebe neu aufgeteilt werden müssen, erkennt Leonhard Lehmann die Chance für den Erlenhof.
Schon sein Vater hatte sich auf landwirtschaftliche Bauten spezialisiert, nun will Leonhard Lehmann IV. sie wegen der zu erwartenden hohen Nachfrage standardisieren und industrialisieren: mit Normscheunen.
Zur Inspiration reist er nach Nord deutschland, wo er Ställe besichtigt und mit Landwirtschaftsverbänden spricht.
Zumindest an einem Abend schweifen seine Gedanken jedoch ganz woanders hin. Es sind amouröse Gedanken.
Die Frau fürs Leben
Leonhard dürfte ein begehrter Junggeselle gewesen sein: bei dem Namen! Und dann: gerade 30 und schon Unternehmer! Dabei ist er bescheiden, fleissig und charmant. «Er hat mir sehr gefallen», erinnert sich Ruth Lehmann, damals noch Ruth Ziegler. Die Familien Lehmann und Ziegler kennen sich seit Langem; Leonhards Mutter, Martha Lehmann-Ledergerber, hat in Zieglers Stickerei gearbeitet. Ruth und Leonhard kennen sich aber auch von Tanz- und Theaterabenden, die der katholische Blauring und der Junggesellenverein Gossau aus naheliegenden Gründen regelmässig veranstalten. So lernen sich der 30-jährige Leonhard und die 23-jährige Ruth 1966 immer besser kennen, und Leonhard Lehmann schreibt «seiner» Ruth am 3. März 1966 aus Bad Iburg im Teutoburger Wald wenn auch keinen Liebesbrief, so doch eine Liebespostkarte.
Am 28. Oktober 1967 heiraten Leonhard Lehmann und Ruth Ziegler in der Andreaskirche in Gossau.

Leonhard und Ruth

Leonhard Lehmann als IV Schulkind
Der Meister
In der Firma ist Leonhard Lehmann ständig unterwegs: im Büro, in der Sägerei, in der Zimmerei und mit Vorliebe auf den Baustellen. Der Respekt, den der «Chef» geniesst, hat viele Gründe – der Name gehört nicht dazu. Unter Hölzigen muss man sich den Respekt verdienen, ein Name allein hilft da nicht. Es ist sein enormes Fachwissen und sein räumliches Verständnis, das ihn auf dem Erlenhof zu einem Primus inter Pares macht, zum Besten unter Gleichen. «Er sah nie Probleme, immer nur Lösungen», erinnert sich Pius Jung, der 1976 seine Zimmermannslehre bei Lehmann beginnt.
Das breite Know-how, das der «Chef» in sich trägt, widerspiegelt die Vielseitigkeit des Erlenhofs als Ausbildungsstätte. «Meine Kollegen von der Berufsschule haben mich beneidet, weil der Holzbau bei Lehmann so vielseitig war, von historisch detailgetreuen Renovationsarbeiten über Wohnbauten bis hin zu Normscheunen», erzählt Pius Jung. Apropos Ausbildung: Sie ist eine Herzensangelegenheit des «Chefs», der sich als Zimmermannsmeister persönlich um die Lernenden kümmert, seine eigene, aber auch die fremden. Über Jahrzehnte führt er für den Schweizer Zimmermeisterverband die Lehrlings- und Meisterprüfungen durch.
Ein Meter zwanzig
Dabei bleibt der «Chef» immer auf Augenhöhe mit seinen Mitarbeitenden, nimmt Ratschläge an, lässt sich überzeugen. Die Jungen haben dennoch gehörig Respekt vor ihm, es gibt sogar ein Codewort: Kommt der «Chef» mit seinem goldenen VW Käfer auf der Baustelle vorgefahren, ruft der Erste, der ihn sieht: «Ein Meter zwanzig!» Wer jetzt gerade eine Zigarette raucht, lässt diese besser fallen und macht sich wieder an die Arbeit. Dafür packt Leonhard Lehmann aber auch selbst mit an, wenn es nötig ist.
Als auf einer Baustelle in Altkirch der Pneukran ausfällt und die Arbeiter rund um Pius Jung auf Anweisungen des «Chefs» warten, krempelt sich dieser die Ärmel hoch, schnappt sich den nächst stehenden Lernenden und hievt mit ihm den ersten Balken auf den Dachstuhl. Ging früher schliesslich auch ohne Kran, das Aufrichten!
Am Ende einer solchen Sonderschicht übernimmt der «Chef» die Runde Bier in der nächsten Beiz. «Er war einer von uns», sagt Pius Jung.
«Es gab sogar ein Codewort: Kommt der «Chef» mit seinem goldenen VW Käfer auf der Baustelle vorgefahren, ruft der Erste, der ihn sieht: «Ein Meter zwanzig!»»Pius Jung
Der Familienvater
Zu Hause auf dem Erlenhof ist Ruth Lehmann die «Tätschmeisterin». An den Vater erinnert sich Tochter Katharina Lehmann als einen «freundlichen und gerechten» Menschen, der es oft etwas pressant hatte.
Wollen die Kinder etwas von ihm – zum Beispiel das Auto für den Ausgang
nach St.Gallen – müssen sie den richtigen Moment abpassen. «Wenn der Vater den Stumpen angezündet hatte, wussten wir: Jetzt hat er mit der Arbeit abgeschlossen, jetzt können wir fragen», erzählt Katharina Lehmann.
Im Wohnhaus der Lehmanns fliessen die Lebensbereiche Familie und Firma wie je zusammen. Gegessen wird in grosser Runde mit Mitarbeitenden, Lernenden, Hausangestellten und Familie. Oftmals findet die Familie nicht einmal mehr Platz am Tisch, sodass Ruth Lehmann mit ihrer ersten Tochter in der Küche essen muss.
Als sie mit dem zweiten Kind, Katharina, schwanger ist, fragt Leonhard Lehmann sie, welches Geschenk er ihr zur Geburt machen dürfe. Ruth Lehmann muss nicht lange überlegen: «Ich wünsche mir, dass du mit deiner Familie isst und nicht mit deinen Mitarbeitenden.» Wenig später eröffnet Leonhard Lehmann die erste Mitarbeiterkantine auf dem Erlenhof – nicht im Wohnhaus, sondern im Obergeschoss des Bürogebäudes.
«Ich wünsche mir, dass du mit deiner Familie isst und nicht mit deinen Mitarbeitenden.»Ruth Lehmann

Leonhard Lehmann IV plant die nächsten Projekte
Der Visionär
Leonhard Lehmann IV. investierte nicht in Luxus, sondern in die stetige Modernisierung des Betriebs. Unter seiner Führung wuchs die Leonhard Lehmann AG auf rund 80 Mitarbeitende und machte sich mit der wellenförmigen Dachlandschaft des Säntisparks schweizweit einen Namen. Dieses kühne Holzbauprojekt setzte neue Massstäbe und unterstrich die Innovationskraft des Unternehmens.
1986 kam es zur geschäftlichen Trennung von seinem Bruder. Leonhard behielt das historische Herzstück des Erlenhofs – die Sägerei, den Holzmarkt und den Holzbau. Trotz wirtschaftlich herausfordernder Zeiten bewies er Weitsicht und investierte 1992 mehrere Millionen Franken in eine moderne Rundholz-Zerspaneranlage, um die heimische Holzwirtschaft zu stärken.
Der Erlenhof entwickelte sich weiter: 1995 siedelte sich Beni Gmünder mit einer Rindenverwertungsanlage auf dem Gelände an, was den Standort zusätzlich aufwertete. Doch die dringend benötigte Umzonung blieb über Jahre ein strittiges Thema. Die Gemeinde Gossau favorisierte eine Verlagerung des Unternehmens in ein neues Industriegebiet, während für Leonhard ein Wegzug undenkbar war. Mit unermüdlichem Einsatz kämpfte er für den Erhalt des Standorts und sicherte so die Zukunft des Erlenhofs.
Die Meisterprüfung
Am Pfingstsamstag 1996 findet Ruth Lehmann ihren Mann frühmorgens unter dem Esstisch liegend. Katharina kommt dazugestürmt, sofort wird der Notarzt alarmiert. Erst ein Jahr zuvor war Leonhard Lehmann III. einem Schlaganfall erlegen. Sein Sohn wird ihn überleben, wenn auch mit schweren gesundheitlichen Folgeschäden: einer halbseitigen Lähmung und dem Teil-Verlust der Sprache.
Als am Dienstag um 7 Uhr der Betrieb wieder losgeht, versammeln Katharina Lehmann und Magnus Ledergerber, der kaufmännische Leiter, die Belegschaft in der Werkhalle. Katharina Lehmann ist zu diesem Zeitpunkt 24 Jahre alt und Wirtschaftsstudentin. «Sie sprach mit so leiser und zittriger Stimme, dass wir sie kaum verstanden», erinnert sich Pius Jung.
Die Nachricht vom Schlaganfall des «Chefs» dringt trotzdem bis zum Letzten durch. So ruhig wie jetzt ist es selten auf dem Erlenhof gewesen. Für Leonhard Lehmann, den Zimmermeister, beginnt nun die schwerste aller Prüfungen: die Krankheit anzunehmen, die Behinderung zu akzeptieren, sich zu lösen von Verantwortung, Plänen, sich aufzurichten
… Sein grösster Trost: Dass er in den folgenden Jahren, ja, Jahrzehnten, beobachten darf, wie der Erlenhof in den Händen seiner Mitarbeitenden und seiner Familie gedeiht und dass dieses Gedeihen auch eine Frucht seines Lebens ist. So meistert er auch diese Lebensprüfung mit Schalk, Geduld und wenn nötig mit einem Stumpen.
«Sie sprach mit so leiser und zittriger Stimme, dass wir sie kaum verstanden»Pius Jung